Interview:
CD "PIU"
Das Fagott in Zeiten der Live-Elektronik
Ein Gespräch zwischen Johannes Schwarz und Achim Heidenreich, veröffentlicht im Booklet der Porträt-CD „PIU“, erschienen bei www.ensemble-modern.com
A: Jedes Instrument hat seine herausragenden Interpret:innen. Deren Virtuosität und Klangempfinden treibt die kompositionsgeschichtliche Entwicklung voran. Wie ist die Situation für das Instrument Fagott?
J: Es gibt zwar beim Fagott einige klassisch versierte Interpret:innen, die klassisch-romantische Zeit endete jedoch vor gut hundert Jahren. Was zur Zeit komponiert wird oder werden konnte, hat mit diesen Interpreten wenig zu tun. Da findet selten Austausch statt, nur die Wiederholung des
Repertoires. Im Bereich der zeitgenössischen Musik ist die Szene der Fagottisten, die sich
dieser Herausforderung stellen, noch beschaubarer, aber auch erkennbar produktiver. Das Problem ist jedoch nach wie vor, dass neue Spieltechniken für das Fagott noch nicht systematisch erprobt und erfasst worden sind. Für mich ist es daher wunderbar, hier im Ensemble Modern unmittelbar mit den Komponist:innen zusammen nach neuen kreativen Möglichkeiten zu suchen, um so Fagottklänge verfügbarer zu machen. Man kann etwa sämtliche Luftgeräusche, also nur das geräuschhafte Intonieren, immer nur gemeinsam mit den Komponierenden experimentell erforschen, also aus dem musikalischen Kontext heraus und nicht
als geistlose technische Übung ohne Anbindung. Das Neue kann nicht nur vom
Instrumentalisten allein kommen, sondern muss mit den Komponierenden gemäß deren
kompositorischen Willen Schritt für Schritt erarbeitet werden.
A: Bis ins 19. Jahrhundert hinein gab es diese scharfe Trennung zwischen Interpret:in und
Komponist:in, wie wir sie heute gewöhnt sind, noch gar nicht. Bach, Mozart, Beethoven, Liszt waren selbst auch die besten Interpreten Ihrer Zeit und öffneten aufgrund ihrer spieltechnischen Möglichkeiten neue musikalische Räume. Paul Hindemith als Bratscher oder der Oboist Heinz Holliger verkörperten und verkörpern noch immer diese Einheit des musikalischen Metiers im 20. Jahrhundert, wie sie im Barock Gang und Gäbe war und erst mit dem aufkommenden
historischen Bewusstsein, dass den Werken etwas überzeitliches innewohnte, an dem der/die Komponist:in sich abarbeitet, verschwunden ist. Wie verorten Sie sich selbst als innovativer Fagottist im 21. Jahrhundert in diesem Spannungsfeld zwischen Einfall, Ausführung und
Tradition?
J: Ich bin ja kein Komponist in dem Sinn, aber ich verstehe mich im Ensemble Modern als Entwickler, der mit den Komponist:innen zusammen versucht neue Wege zu gehen. Ich kann ihnen vormachen, wie man sich aus dem klassischen Korsett herausschälen
kann. Das ist natürlich beim Fagott besonders schwierig, denn es wurde bis in die 1970er Jahre hinein rein klassisch behandelt. Erst mit wegweisenden Kompositionen z.B. von Sofia
Gubaidulina, Isang Yun und natürlich auch Karlheinz Stockhausen aus dieser Zeit begann sich da was zu ändern.
Mich interessiert ganz klar, wie man sich von der klassischen Intonationsweise trennen kann. Wie unabhängig können Motorik, Klangfarbe und Spieltechnik vom menschlichen Impetus, also vom Atem, von der Phrasenbildung gehandhabt werden? Kann die Zirkularatmung die klassische Phrasenbildung über den Haufen werfen? Früher wurden die Kompositionen nach dem Atemvorrat eines Menschen angelegt. Virtuosität und Phrasenbildung hingen eng aneinander. Was nutzt die schönste Koloratur, wenn der Atem ausgeht. Das kann man jetzt durchbrechen. Mit Komponist:innen und zusätzlicher Elektronik will ich neue Klang-facetten eröffnen und damit natürlich auch eine dazu geeignete Repertoirebildung
initiieren. Da stehen wir nach wie vor am Anfang. Ich wünsche mir, dass mir das mit dieser Einspielung gelingt.
A: Das Fagott ist aber im klassischen Kontext zuerst einmal ein einstimmiges Instrument. Was für ein Instrument wird es bei Ihnen? Gehen sie da vor wie Lachenmann? Der sagte
beispielsweise, das Streichquartett sei ein sechzehnsaitiges Instrument, dass er umregistriert habe wie er es auch mit dem Orchester mache: Alles ist eine Orgel.
J: Im klassischen Sinn stimmt das natürlich mit der Einstimmigkeit, aber nicht mehr für die moderne Musik. Für mich war die Initialzündung, mich mit dieser sogenannten Mehrstimmigkeit zu befassen, das Stück "Mani Long" (2001) von Piereluigi Billone. Das Stück hat eine konsequente Geräuschhaftigkeit und benutzt speziell bei den Bläsern eine Art und Weise, mit
Multiphonics umzugehen, Das ist ganz anders gelagert als etwa Lachenmanns musique concréte instrumentale. Lachenmann geht oder ging es ja vor allem darum, auch den Anteil menschlicher Arbeit an der Musik, also das Intonieren an sich in seiner Geräuschhaftigkeit, zu artikulieren. Das ist auch ein gesellschaftspolitisches
Programm. Billone bleibt aber musik-immanent. Er hat die Instrumente Bassklarinette und Fagott neu benutzt und klanglich erforscht, um die Instrumente selbst erst einmal an ihre klangliche Grenze zu bringen. Er hat ein neues Griffnotations-system entwickelt und lässt diese Instrumente mehrstimmig speziell durch die beim Fagott noch weitestgehend unerforschten Multiphonics in einer neuen Sprachwelt erscheinen - da ist er bisher der einzige.
A: Sie selbst versuchen ja auch mit dieser Einspielung von Ihnen gewissermassen auf den Leib komponierten Werken die Entwicklung voranzutreiben und das Fagott in den Kompositionskanon spektraler, komplexer und live-elektronischer Musik einzureihen. Mit welchen Mitteln gehen Sie
da zu Werke?
J: Ich habe mir Stücke rausgesucht, bei denen man auch hören kann, dass das Material Holz als ein lebendes Material in Gegensatz zu einer harten Mechanik und Motorik gestellt wird, die mit Lebendigkeit scheinbar nichts zu tun haben.
A: Wie stabil sind dann solche Klangwelten der Gegensätze? In Billones Solowerk für Fagott "Legno Edre V. Matrio" gibt es zudem asiatisch anmutende Intonationsmuster. Wurden diese Modelle vom Fagott imitiert?
J: Ganz konsequent sind die auf dieser CD versammelten Stücke Beispiele dafür, dass die klassische Atmung und die gewohnte klassische Einstimmigkeit durchbrochen wird. Ich muss es noch einmal betonen. Darum geht es und daran hängt es: Die klassische Phrasierung ist für die Möglichkeiten des Fagotts eine Zwangsjacke. Die gilt es abzulegen. Bei Billone funktioniert das durch eine chaostheoretische Unwägbarkeit der Klangresultate im allerdings vorge-schriebenen Intonationsvorgang. Das ist auch für mich selbst immer wieder voller Überraschungen. Der Zufall ist hier zwarrelativ eingegrenzt, aber man stößt im Wortsinne
damit in unerforschte Bereiche vor, vielleicht ist das auch der asiatische Zauber, den sie vorhin vielleicht mit dem Verweis auf die Intonationsweise meinten Durch die artifiziell vorbeiströmende oder fast tonlos durchströmende Luft entstehen ja ganz ungeahnte Obertonbereiche und Schwingungsvorgänge, die wir erst einmal katalogisieren müssen. Klingt jetzt vielleicht etwas akademisch, muss aber sein. Wenn die Landkarte noch weiß ist, orientiert man sich erst einmal an den Meridianen, um konkrete Landschaften kenntlich zu machen. Es werden in der Tat noch nie zumindest von diesem Instrument gehörte Klänge exponiert. Das ist neue Musik, wie ich sie verstehe. Daher findet bei Billone keine Übertragung eins zu eins von exotischen Klangidealen statt, sondern es gibt eine Anverwandlung fremder Intonationsweisen, Schwingungs- und
Erregungszustände, die um, wie das Billone nennt, extreme Knotenpunkte gruppiert sind, aus denen dann neue Schwingungen und Klangzustände herauswachsen, sich transformieren und dabei auch eine gewisse Eigendynamik entwickeln, eine Mechanik, auf die der Spieler keinen Einfluss mehr nehmen kann. Das Instrument nimmt sich hier selbst alle Freiheit des Klangs
A: In Sascha Janko Dragicevics "Piu" für Fagott und elektronische Klänge", trifft der als einsam hingestellte Instrumentalist auf eine kalte, stählern anmutenden Maschine, das Ensemble, so jedenfalls das Konzept hinter dem Werk.
J: Diese Mechanik und Motorik wird noch extremer bei den beiden Stücken von Sascha Janko Dragicevic radikalisiert als bei Billone. In reiner Atemlosigkeit wird auf den Interpreten keine Rücksicht genommen, der Interpret muss mit seinen Bedürfnissen zurücktreten. Dragicevic nennt das Klangpanorama seines Zuspiels "Stahlklang." Akustische Gitarren mit Stahlseiten, mit
hartem Plektrum gespielt und verfremdete Steeldrums sind die Grundlage dieses Materials. Dagegen muss der Fagottist mit seinem hölzernen Instrument gewissermaßen den intonatorischen Aggregatzustand ändern, um in diesem sinnbildlichen Strudel aus Nägeln und Pfeilspitzen nicht durchlöchert zu werden und unterzugehen. Eine wirklich existentielle Situation,
in die sich der Interpret begibt.
Maurizio Kagels gigantistische Musikmaschinen aus den 60er Jahren provozierten ja ebenfalls
diese mörderische Wettbewerbssituation, eine Art Russisch Roulette der Töne.
Am Ende des Stücks bricht der jüngste Tag an und die Sargdeckel werden von innen geöffnet. So stelle ich es mir jedenfalls vor.
In "Autogamie (2005) Version 2" für Fagott und elektronische Klänge, ebenfalls in direktem Kontakt mit mir entstanden, wird noch strenger verfahren. Ein Code aus zehn Teilen bestimmt alle Bewegungsmuster der Komposition. Es gibt zehn große Teile, zehn Phrasenabschnitte, zehn rhythmische Bausteine usw. Durch Komprimierung, Dehnung in der Länge, also Dauer,
und Streckung in der Höhe, also in den Amplituden, wachsen oder schrumpfen die dynamischen Teile - eine Beziehung zur fraktalen Geometrie ist unüberhörbar.
A: In dem Werk "Transmission" von Franck Bedrossian wird das Fagott mit schrappnellähnlichen Heavy Metal Klängen konfrontiert und durch wahrliche Knochenarbeit hat der Spieler seine liebe
Not, vor diesen monströsen Breitwand-effekten überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Das sind schon Grenzbereiche der Performance. Interessant dabei ist, dass der Interpret das Fagott so forciert behandelt, dass es wie ein synthetischer Klang klingt, etwa wie weißes Rauschen. Ist das bewusst ein gänzlich unnatürlicher Zustand, in den Sie sich begeben?
J: Ja, Bedrossian meint, in dem Stück gehe es um "das unwahrscheinliche Zusammen-treffen eines für das symphonische Universum typischsten Instruments mit neuer Technologie." Die Verzerrungen und Signale können nicht miteinander kommunizieren. Oder können sie es doch?
Instrumentalist und Elektronik befinden sich in einem Spiegel-Verhältnis. Im Spiegel der
Elektronik spiegelt sich das Fagott. Dessen kleineres Spiegelbild nimmt die Elektronik erneut auf und wird wiederum von ihr zurückgeworfen. So entstehen Frequenz-gänge, die klanglich vom Original zwar noch durch die Kausalität der Ereignisse gefangen, in der Wahrnehmung aber schon Lichtjahre voneinander entfernt sind.
A: Klingt alles sehr aufregend. Enno Poppes "Holz solo" dagegen wirkt vordergründig etwas bieder, zumindest der Titel. Aber das ist auch Masche bei ihm, seine Werke nach
Bauhausabteilungen zu nennen. Holz wurde ursprünglich für Klarinette und kleines Ensemble geschrieben und gehört zur Trilogie "Holz-Knochen- Öl," alles organische Stoffe. Wie organisch ist das Stück?
J: Sehr. Es geht da um Wachstum, um Auswachsungen. Poppe lässt zwei Grundideen sich überkreuzen, die sich aus einer Kette von 900 Zellen ergeben, die zunächst durch läuft. Mit dem Fagott kann ich natürlich noch tiefer gehen als eine Klarinette. Das Fagott ist übrigens im Gegensatz zur Klarinette in den hohen Lagen eher zart und klagend statt scharf. Poppe wollte auch wissen, wie sich sein Werk klanglich verändert, also ein anderes Werk wird, wenn ein größtenteils unveränderter Notentext von dem anderen Instrument gespielt wird. Dieses Verspielte gefällt mir auch an der Komposition. Aber das ist natürlich nicht alles. Bei Poppe wird die klassische Spiel-weise komplett ausgereizt, durch extreme Benutzung von Vierteltönen und
rhythmischer Struktur, aber auch durch eine dem Interpreten entgegenstehende Art und Weise, dass übliche Phrasenbildung und Atemholen fast unmöglich sind.